Beim Aussteigen aus der Zahnradbahn an der Talstation des Corcovado zeigt eine Schnalle meiner Phototasche Ermüdungserscheinungen und bricht durch. Das ist jetzt fürchterlich unpraktisch, da ich die Tasche nicht mehr über die Schulter hängen kann, sondern tragen muss. Außerdem befestige ich die Tasche damit aus Sicherheitsgründen immer an einem Stuhl- oder Tischbein, wenn ich in einem Straßencafé sitze.
Kleben geht nicht. Irgendwie muss eine Lösung her. Man könnte eine Kordel durch die beiden Enden ziehen und zusammenknoten. Oder ein Stück Draht. Genau! Das ist es! Ich erinnere mich an den Obdachlosen, der an der Straßenecke zwischen meinem Hotel und der Metro wohnt. Der verdient seinen Lebensunterhalt damit, aus irgendwelchen Drahtresten mit einer Zange Skulpturen zu formen. Der würde mir helfen können. Auf dem Weg zurück zum Hotel würde ich ihn fragen, ob er mir ein Stück Draht gibt.
Es ist vier Uhr nachmittags. Der Typ schläft. Verdammt! Ich brauche jetzt aber ein Stück Draht. Ich wecke ihn auf. Ich deute auf meine Phototasche und zeige ihm mein Problem. Ich solle doch mit ihm reden, meinte er. Ich könne aber kein Portugiesisch. Dann solle ich halt in Englisch reden. Er würde das schon verstehen. Das mit der Tasche sei nicht so einfach. Er wühlt in seinen Drahtknäuel und beginnt ein Stück zu zwirbeln. Das müsse ja schließlich auch halten. Er zwirbelt noch eins und noch eins. Mit der Zange biegt er Haken und Ösen . Er zieht den Draht durch die Schlaufen meiner Tasche, murrt immer wieder, dass ihm das nicht gut genug sei. Nach 20 Minuten schließlich hat er sein Werk vollendet. Ganz zufrieden ist er immer noch nicht.
Wo ich denn herkommen würde. Eu sou alemão, sage ich. Eu sou o Carlos, sagt er und freut sich. Eu sou o Burkahard, erwidere ich. Was er denn für die Reparatur haben will frage ich ihn und bin aufs Schlimmste gefasst. Nichts, sagte er. Er will nichts dafür. Er hätte sich so gefreut, dass jemand gekommen sei, der seine Hilfe bräuchte. Das sei schon ewig nicht mehr vorgekommen, dass er gebraucht wurde. Und er strahlte dabei ganz glücklich.
Ganz umsonst wollte ich das jetzt nun auch nicht haben. Schließlich hat sich Carlos sehr viel Mühe gegeben. Ich drückte ihm 20 Reais in die Finger. Carlos wurde ganz verlegen und meinte, er hätte doch jetzt einen Freund aus Deutschland. Verschämt kramte er in seinem Warenlager und zog schnell ein Kette hervor, die er selber in mühevoller Kleinarbeit gebastelt hat. Sie ist aus Kupferdraht. Der Materialwert bewegt sich im Cent-Bereich. Der immaterielle Wert ist ungleich höher.
Ich habe jetzt einen brasilianischen Freund. Facebookfreunde können wir nicht werden. Carlos hat kein Facebook. Carlos lebt auf der Strasse.